Bewegendes Finale

Am 22.08.2016 erscheint mit „Die schwedischen Gummistiefel“ der letzte Roman des im Herbst 2015 verstorbenen schwedischen Schriftstellers Henning Mankell. norrden hatte nun das Vergnügen und die Ehre, mit einer Person zu sprechen, die den Künstler lange kannte und seine literarischen Werke ein gutes Stück weit intensiv begleitet hat: Dr. Tatjana Michaelis, Mankells deutsche Lektorin. Im ausführlichen Interview gewährt sie tiefe und sehr persönliche Einblicke in Welt, Werk und Wesen eines der in vielerlei Hinsicht größten skandinavischen Schriftstellers unserer Zeit.

Tatjana_Michaelis_Liebe Frau Dr. Michaelis, wie lange setzen Sie sich schon beruflich mit Henning Mankell als Schriftsteller auseinander?
Das erste Buch von Henning Mankell war der Kriminalroman „Die fünfte Frau“. Den haben wir 1998 publiziert, das heißt, ich war schon mindestens ein Jahr, wenn nicht zwei Jahre vorher mit Mankell beschäftigt. Wir haben jetzt also 20-Jähriges.

Und wie haben Sie ihn als Mensch kennengelernt?
Wir haben uns natürlich im Laufe der Jahre sehr oft getroffen. Er ist, wie viele nordische Menschen, ein sehr zurückhaltender Mann gewesen. Es hat sich aber doch im Laufe der Zeit ein Vertrauensverhältnis entwickelt und man hat sich immer gefreut, sich zu sehen.

„Die schwedischen Gummistiefel“ sind Mankells 29. in Deutschland erschienenes Buch – seine ebenfalls zahlreichen Kinder- und Jugendbücher jetzt mal nicht mitgerechnet. Welches aus seinem Gesamtwerk der Erwachsenenliteratur ist Ihr persönlicher Favorit – und warum?
Also, das ist bei diesem sehr heterogenen Werk ganz schwer zu sagen! Ich habe einen Favoriten unter den Wallander-Krimis, das ist „Mittsommermord“. Einen unter den Afrika-Büchern, „Die flüsternden Seelen“. Und dann geht es einem als Lektor ja auch ganz oft so, dass man das Buch, das man als Letztes gemacht hat, am meisten liebt – und das sind nun „Die schwedischen Gummistiefel“. Da ist er mir sozusagen noch mal sehr nahe gekommen. Und ich finde, es ist auch einfach ein ganz hervorragender Roman.

Warum ist es denn bei den Afrika-Büchern, von denen er ja auch mehrere geschrieben hat, „Die flüsternden Seelen“? Und von all den Wallander-Krimis ausgerechnet „Mittsommermord“?
Bei „Mittsommermord“ ist es dieses etwas dekadente Setting mit den Jugendlichen, die sich mit Kostümen des 18. Jahrhunderts verkleiden, um Mittsommer zu feiern, das mir besonders gefiel. Außerdem ist es ein besonders spannender Roman, der sehr tief in gesellschaftliche Probleme hineinführt. „Die flüsternden Seelen“ sind nicht so Plot-getrieben, aber enthalten sehr viele interessante Beobachtungen über Afrika. Auch über Animismus und Glaubensfragen. Ich finde, es ist ein besonders aufschlussreiches, aber auch poetisches Buch. „Die schwedischen Gummistiefel“ wiederum sind einerseits sehr spannend, weil Mankell hierin wieder eine Fährte legt, sodass man etwas enträtseln möchte, aber es ist absolut kein Krimi. Sondern ein sehr persönlicher und eigentlich intimer Roman, in dem man der Hauptfigur, Fredrik Welin, der durchaus ja auch Ähnlichkeiten mit seinem Autor hat, sehr nahe kommt.

Gibt es ein oder mehrere Bücher von ihm, die für Sie als Lektorin besonders herausfordernd waren?
Es ist ja so: Wenn man fremdsprachige Belletristik betreut, dann sind die Bücher im Original fast immer schon erschienen. Das heißt, in der Regel beschränkt sich die Arbeit auf das Lektorat der Übersetzung. Es gab aber in der langen Mankell-Serie schon ein paar Bücher, bei denen die Arbeit auch darüber hinausging. Das eine war dieser schmale Band „Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt“. Da hat Mankell über die sogenannten „Memory Books“ in Uganda geschrieben. Das ist eine Sitte der Afrikaner, die an Aids erkrankt sind, Erinnerungsbücher für ihre Kinder zu schreiben. Und darüber hat er einen sehr schönen Text geschrieben – der dann aber doch ein bisschen kurz war für ein ganzes Buch. Also habe ich mir überlegt, es wäre doch interessant, wenn wir ein solches Memory Book auch in dem Band abdrucken könnten! Da dranzukommen war natürlich nicht ganz einfach. Plan International hat uns dabei geholfen, und dann musste das Ganze ja auch übersetzt werden und sollte ein Nachwort bekommen. Daraus ist letztlich ein schönes Buch geworden, über das Mankell auch mal zu mir gesagt hat, dass es in keinem anderen Land so schön und so erfolgreich geworden sei wie bei uns. Das hat mich natürlich gefreut!

Balsam für die Lektoren-Seele…
(lacht) Ja! Und der zweite Fall waren die „Daisy Sisters“. Das ist ein früher Roman von Mankell über drei Generationen schwedischer Frauen, von dem er selber sagte „Na ja, manches würde ich heute nicht mehr ganz so schreiben“. Da haben wir dann mit ihm zusammen auch ein bisschen mehr gemacht als Übersetzungslektorat.

Worin liegt Ihrer Meinung nach das Geheimnis von Mankells großem Erfolg? Vor allem auch in Deutschland, wo wir hier doch sonst in Sachen Schweden eher besonders für „Bullerbü-Romantik“ empfänglich sind.
(überlegt einen Moment) Das ist eine vielschichtige Frage. Ich glaube, der wichtigste Teil der Antwort ist, dass Mankell als Persönlichkeit so überzeugend war. Natürlich ist er ein hervorragender Erzähler, alle seine Bücher, die liest man gern, die sind spannend, er zieht einen hinein. Aber dahinter stand immer auch der Mensch Henning Mankell, mit seinem persönlichen Engagement, mit seinem geteilten Dasein – halb in Schweden, halb in Mosambik –, der ja dann auch oft Interviews zu politischen Fragen gab, den Horst Köhler mit auf Reisen genommen hat. Und ich glaube, diese besondere Mischung, die absolute Glaubwürdigkeit, die hat ihn als Person auch so interessant gemacht, dass die Leute sich – was für mich zunächst eine echte Überraschung war! – auf einmal auch für seine Afrika-Bücher interessiert haben. Natürlich waren das keine solchen Riesenbestseller wie die Krimis, aber doch in ganz außergewöhnlichem Maße erfolgreich.

Also wären die wahrscheinlich ohne die Krimis in Deutschland mehr oder minder untergegangen?
Wenn man Mankell nur mit Afrika aufgestellt hätte, wäre das sicher viel schwieriger gewesen, ja.

Haben im Laufe der Jahre Kurt und Linda Wallander, Stefan Lindman, Fredrik Welin & Co. Ihre Sicht auf Schweden und seine Bewohner verändert?
Ich habe diese Bücher nie als ein realistisches Abbild schwedischer Mentalität gesehen. Und gerade die Wallander-Bücher, oder auch seine anderen Romane, hätten uns, wenn sie nur schwedisch wären und es nicht um gesellschaftliche Probleme ginge, die uns alle betreffen, nicht in dem Maße fasziniert. Das ist bei Wallander genauso wie bei „Die Rückkehr des Tanzlehrers“. Oder jetzt auch bei Fredrik Welin, diesem einsamen Mann in „Die schwedischen Gummistiefel“, wo es um die Frage geht: „Wer ist eigentlich mein Nächster?“. Und: „Zu welchem Menschen kann ich Vertrauen haben?“. Diese allgemeinen Fragen gehen ja weit über nationale schwedische Eigentümlichkeiten hinaus.

Es heißt allenthalben, dass „Treibsand“, Mankells vorletztes Buch, das ja kein Roman, sondern vielmehr eine Art niedergeschriebener Seelenspiegels des Autors ist, sein persönlichstes Buch sei. Sind „Die schwedischen Gummistiefel“ nicht vielleicht sogar noch persönlicher – gerade weil sie ein Roman sind und so den Leser noch vielschichtiger mit essenziellen Fragen konfrontieren?
Also grundsätzlich glaube ich, haben Sie da vollkommen recht. Ich wäre aber ein bisschen vorsichtig mit dem Ausdruck ‚Seelenspiegel‘. Einerseits geht es in „Treibsand“ durchaus auch um Emotionen und Befindlichkeiten, um einschneidende Erlebnisse, die Mankell persönlich hatte, um die Angst vor dem Sterben und solche Dinge. Es geht in diesem Buch jedoch mindestens im gleichen Maße um politische Haltungen und intellektuelle Fragen. Aber dass „Die schwedischen Gummistiefel“ ein sehr persönliches Buch sind, der Meinung bin ich absolut! Ich habe versucht, mir das so vorzustellen: Fredrik Welin befindet sich in einer existenziellen Notlage, sein Haus ist abgebrannt, er besitzt buchstäblich nichts mehr als ein Paar Gummistiefel. Und das zwingt ihn dazu, über sein Leben nachzudenken und über Beziehungen zu Menschen, die ihm nahestehen. Geschrieben hat Henning Mankell den Roman in einer Grenzsituation, als er wusste, dass er sehr schwer an Krebs erkrankt ist. Er wusste nicht, dass er so bald sterben würde, aber dass das eine sehr ernste Erkrankung war, war ihm natürlich völlig klar. Ich glaube, dass ihn viele ähnliche Gedanken wie Fredrik Welin umgetrieben haben. Und wer sich ein bisschen mit Mankells Biografie auskennt – einiges davon ist ja auch veröffentlicht in dem Band „Mankell über Mankell“, in dem viele biografische Dinge stehen – der erkennt da auch gewisse Parallelen.

Was erwartet die Welt denn nun an mitreißender Literatur aus Schweden?
Nun, ich gehöre zu den Menschen, die sagen, wenn irgendwann mal der Krimi-Boom vorbei ist – der schwedische Krimi-Boom hat ja in gewisser Weise mit Mankell begonnen; er war nicht der Einzige, aber als einer der Ersten im Hardcover immens erfolgreich, gerade auf dem deutschen Markt – dann hoffen wir, dass wir aus Schweden auch wieder viele andere interessante literarische Stimmen hören. Die sind jetzt in der Aufmerksamkeit ein bisschen in den Hintergrund geraten, aber wir haben ja gerade auch bei Hanser hervorragende literarische Autoren, nicht nur Enquist und Gustafsson. Nehmen Sie Fredrik Sjöberg, nehmen Sie Aris Fioretos, von dem wir mit „Mary“ im Herbst einen großartigen Roman herausbringen, oder nehmen Sie Sara Stridsberg, die jetzt neu zu uns gekommen ist und von der im nächsten Frühjahr ein Roman erscheinen wird, den ich sehr, sehr interessant und bewegend finde. Also in Schweden gibt es wirklich viel an guten Autoren, gerade im Bereich der Literatur, nicht alles Neuentdeckungen, aber was es sich zu verfolgen lohnt.

Oder was man vielleicht tatsächlich zum ersten Mal für sich entdecken kann.
Genau!

Verraten Sie uns zum Schluss doch bitte noch, wie Sie als Mankell-Kennerin und -Expertin den großen schwedischen Autor, dessen Herz auch für Afrika schlug, in einem Satz beschreiben würden!
(lacht wieder) Das ist jetzt wirklich die Quadratur des Kreises, weil es in einem Satz tatsächlich nicht geht! Weil es genau diese Mischung ist aus spannendem Erzählen, gesellschaftlicher Beobachtung, politischem Engagement, permanenter Neugierde auf andere Menschen und Kontinente – natürlich insbesondere Afrika – also einfach die ganze Persönlichkeit Henning Mankells ist. Und das wird zwangsläufig ziemlich platt, wenn ich das hier jetzt so in einem Satz sagen soll. (lacht noch mal)

Liebe Frau Dr. Michaelis, ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auch Ihnen und dem Verlag den verdienten Erfolg mit Henning Mankells letztem eindrucksvollem Werk!

HENNING MANKELL
Die schwedischen Gummistiefel
übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Paul Zsolnay Verlag
Erscheinungsdatum: 22.08.2016
480 Seiten
Hardcover / ISBN 978-3-552-05795-1
eBook / ISBN 978-3-552-05808-8

Titel der 2015 beim Leopard Förlag, Stockholm erschienenen Originalausgabe:
Svenska gummistövlar

Das Interview führte Anja Otten-Reichel | Foto: © Dr. Tatjana Michaelis | Cover-Foto: © Hanser Literaturverlage

Tack så mycket auch an Felix Neumann von LitVideo, Hamburg

4 Antworten auf Bewegendes Finale

  1. Eberhard Jahnke-Saint-Sans sagt:

    Guten Tag,

    ich habe kürzlich anläßlich einer Kurzreise nach Ystad Henning Mankells Roman „Mord im Herbst“ noch einmal gelesen. Im dortigen Touristenbüro, oder war es am Hafen von Ka°seberga anläßlich eines Besuchs der dortigen Schiffssetzung Ales Stenar?, fiel mir eine Werbepostkarte der Töpferei Argilla im nahegelegenen Löderup in die Hände, auf der zwei Hände bei der Formung eines Gefäßes auf einer Töpferscheibe zu sehen sind.
    Dadurch kam ich auf den Gedanken, ob nicht die schwedischen Romantitel „Händelse om höchsten“ und „Handen“ durch die genannte Töpferei angeregt worden sein könnten, zumal ihr Werbespruch „Handen ger liv a°t förema°let“ lautet. Es wäre interessant zu wissen, ob dieses „Logo“ schon zu Entstehungszeiten des Buches existierte. Die „Krukmakeri“ in Löderup besteht laut Werbepostkarte schon seit 1975.
    Es wäre schön zu erfahren, ob es über die oben genannte Fragestellung bereits durch die biografische Forschung eine Antwort gibt. Denn Hände spielen im Roman eine entscheidende auslösende Rolle!

    Mit freundlichen und neugierigen Grüßen aus Berlin

    E. Jahnke-Saint-Sans

    • Anya sagt:

      Lieber Herr Jahnke-Saint-Sans,

      tack sâ mycket für Ihren sehr interessanten Kommentar zum Interview mit Henning Mankells deutscher Lektorin. Was Ihre sehr spezifische Frage betrifft, kann ich Sie leider nur an den Verlag verweisen; die norrden-Redaktion ist kein Experte in Sachen Mankells Vita und Œuvre.

      Weiterhin viel Freude und Inspiration beim Lesen und den Reisen nach Skandinavien!

      Hjärtliga hälsningar,
      Anja

  2. Henning Mankell fehlt. Ein interessantes Gespräch. Es gibt Kapitel in Treibsand, die man nie wieder ganz aus dem Kopf rausbekommt. Sein leidvoller Abschied war ein Aufschrei, ein Ecce Homo.

  3. Pingback: Interview mit der deutschen Lektorin | Henning Mankell

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